Der
letzte, langjährige Ortskuhhirte Ottto Münch sitzt mir vor dem
kleinen Hirtenhaus im Kelchtal gegenüber, letzter Spross einer Hirten-Dynastie.
Otto wurde vorzeitig, krankheitshalber, pensioniert.
Er
spricht: Zeiterlebnisse der Vergangenheit nehmen Gestalt an, reifen zur
Substanz, zu einem Stück Heimat. Herden und Heimat: ein Stück
der Hirten. Schon sein Vater, Theodor Münch, ging als Hüteknecht
dem Vorgänger, Hirten Sackmann, zur Seite. (Der Großvater weidete
die Gittelder Herde.) Beide dienten Schulter an Schulter 19 Jahre; Herdenstärke:
220 Harzkühe. – Als 1909 der Ziegenhirte Scherger starb, übernahm
Theodor bis 1917 die „Kühe des kleinen Mannes“. Da rief ihn die Bergstadt
Lautenthal zur Betreuung ihrer 140 Kühe.. 1912 übernahm Albert
Halves vom Hirten Sackmann die Grundner Herde; Stärke: 180 Tiere.
Nach kurzem Intermezzo in Lautenthal wurde Theodor Grundner Hirte und wies
sofort alle seine Söhne in das schöne, freie Hirtenhandwerk ein.
Sohn Wilhelm hatte von 1926 bis 1946 die Hahnenklee-Bockswieser Herde vor
dem Stock und von 1947 bis zu seinem Tode 1958 die 120 Kühe Buntenbocks.
Vater Theodor behielt sein Amt bis 1936 – da starb er. Seiner ansteckenenden
Fröhlichkeit und Ausgeglichenheit wegen liebten ihn alt und jung,
Einheimische und Gäste.
Seine
Söhne traten voll in die Fußstapfen des Vaters. Mein Gott, wie
oft wurden diesen Braven abgelichtet....
Nach
Vaters Abgang hüteten die Söhne Ernst und Otto in Grund; später
Otto allein, unterbrochen von einem dreijährigen Kriegseinsatz – bis
1950. Mit 45 Jahren, infolge eine Hüftgelenkleidens, wurde er Vollrentner.
Ein Mensch, an Tieren –Natur- Freiheit gewöhnt, brach in sich zusammen.
Er: ehrlich, pflichtbewusst, treu, der nie in all den Hütejahren einen
Unfall zu beklagen hatte, saß vor mir und weinte. Die große
Herde, das große Kapital, war bei Wind, Wetter und Gewitter, in Ottos
Obhut bestens behütet gewesen.....
Heimweh
kann etwas Schöneres beinhalten und kann auch so wehtun.. Lassen wir
Vergangenes weiterleben.
Stets
am 2. Ostertag war Viehaustrieb in der Bergstadt. Geschmückt von ihren
Haltern betraten die Tiere übermütig die Straßen, bestaunt
von Einheimischen wie Gästen. Die ersten drei Tage rief der Knall
der Schleuderpeitschen die Kühe ins Freie. Es ging zur damals unbebauten,
mit kulinarischen Ständen bestückten Pfarrwiese. Feierliche Übergabe
eines bunten Taschentuchs an die Hirten. Wir Jungen bekamen einen Bindfaden-Klapp
für unsere Peitschen. An der Schleuderpeitsche der Hirten konnte sich
jeder versuchen. Wem der Knall nicht gelang, er sich stattdessen in das
Riemenzeug einwickelte, zahlte 50 Pfennig Strafporto. Und: Frohsinn hat
viele Gesichter...
Abends
am Austriebstag – schwoften die „Hirsche“ zu entsprechender Musik – bis
in die Nacht hinein.
Und
so haben wir die Hirten in Erinnerung behalten: Gestandene Mannsbilder;
schwarzer, Eichelhäherfedern geschmückter Hut auf dem Haupt,
im schwarzen Köperstoff-Kittel, Beingamaschen, breites Koppelzeug
mit Axt-Halterung und Leine für den fuchsähnlichen Hirtenhund.
– Unterhalb der Marktkirche, blies Theodor mit dem langen, gewundenen „Brummer“
die Tiere aus ihren Stallungen, oberhalb des Ortes: Otto mit dem Waldhorn.
Hatte eine Hausfrau verschlafen, bekam sie ihr Ständchen nach dem
Text: „Wer so ein faules Gretl hat...“ Und die Nachbarn hatten ihren Spaß
an der Freud....
Die
Herde zog ab Markt in eines der Täler gen Bergwiesen, bis zum 10.
Mai. Mancher Ortsteil heute existierte seinerzeit noch nicht.. Wohltuend
war der Klang des Glockengeläuts. Alle waren gestimmt, Bandbreite:
vom hohen C bis zum tiefen Baß. |
Ab
10. Mai ging es an die Grünflächen der Bergwälder. Ein besonderer
Hirtentag war der Montag: Hirten- und Herdentreff im Steintal. Beteiligt
die Herden aus Clausthal, Buntenbock, Lerbach und Bad Grund.: Hirten-Brüderschaft!
Das lief so ab: Anmarsch 2 ½ h –Fresszeit bis 12.30 Uhr – Tränkung
am Bergbach – Rast für Wiederkäuen. Natürlich kannten die
Hirten jedes Tier, auch bei Namen. Im Regelfall waren alle Kühe bis
zum Saisonauftakt gedeckt. Dennoch trieb der Zuchtbulle in jeder Herde
mit. Er wurde alle zwei Jahre innerhalb der Bergstädte ausgetauscht.
Bis 1940 war der Bulle Eigentum des Hirten, dann übernahm ihn die
Stadt.
Diesen
Vorgang überwachte das Zuchtamt in Goslar. Die Bullen waren Kolosse
von 12 – 14 Zentnern, der letzte Ortskapitale wog 17 Zentner. Pro Bulle
rechnete man ca. 80 Kühe. Vor 1940 kostete das Deckgeld 6 Mark, nach
Stadtübernhame des Tieres 12 Mark. Trafen wieder Gäste in Bad
Grund ein, war oft die erste Frage an ihre Vermieter: „Lebt auch der Theodor
und Otto noch?“
Nur
einmal passierte im Ort ein entsetzlicher Unfall. Ein wütender Bulle
geriet mitten auf dem Marktplatz, Wurms Seite, außer Kontrolle. Er
griff den fast 80jährigen Pastor i.R. Ehrenfeuchter an, nahm ihn auf
die Hörner und schleuderte ihn gegen die Hauswand. Der betagte Herr
erlag nach zwei Stunden seinen schweren Verletzungen. Der Bulle wurde tags
darauf geschlachtet.
Sammelten
anfangs die Hirten ihren Lohn von den Tierhaltern selber ein, so lohnte
sie später der Verein. Der Hirte, vom Bürgermeister angemietet,
stand unter festem Vertrag, der allerdings jährlich durch Neuwahl
bestätigt werden musste; sein Verdienst wurde dem Spitzenlohn eines
Bergwerks-Aufbereiters (Übertagemann) angepasst. Bekanntlich darf
ein Hirte seine Herde nie verlassen; andernfalls hatte er einen Ersatzmann
zu stellen. Dafür gab es pro Jahr als Treuegeld einen Wochenlohn als
Urlaubs-Entschädigung. Lästige Insekten, grollende Gewitter verlangten
Hirten oft alles ab. Das schmälerte nicht die Liebe zu seinen Tieren
oder seinen Berufsstolz. Gern verabredeten sich Kurgäste mit den Hirten
zu einem Treff im Forst. Für das Schärperfrühstück
sorgte der Hirte: frisches Brot, eine Schlacke und Büchsenwurst aus
eigener Herstellung. Für das Kaffeetrinken sorgten die Gäste:
Frischer Blechkuchen und Kaffeebohnen. Der Bach lieferte perlendes Quellwasser.
Waldesluft und Bohnenkaffeeduft: ein Traum!
Ich
hatte das Glück, einige Male an dieser Feuerstellen-Romantik teilnehmen
zu können und staunte auch, weil hier der Hirte und der Direktor „per
Du“ verkehrten. Mundende Kuhmilch war klar bei dem würzigen Weidefutter
und wurde von Ärzten verordnet. Bei entsprechender Witterung weidete
die Herde zwischen dem 28. September und 10. November wieder in den offenen
Bergwiesen. War dem so, bekam der Hirte von den Tierhaltern einen neuen
Hut.
Im
Winter zogen Vater und Sohn im Schlachterrock zur Kundschaft: Hausschlachtung.
Wurst würzen: meisterlich! Als Arbeitsloser „Stempeln“ – gab es nicht!
Durch Korbflechten und Besenbinden verdienten die Hirtenfrauen ein Zubrot.
Da die Hirten sich mit Heilkräutern der Natur-Apothele auskannten,
kurierten sie manches Tier oder spielten Geburtshelfer.
Für
Otto, der 1950 krankenhausreif war, ging eine Ära zu Ende: Hirtenleben
– Aus. Für zwei Jahre übernahm der Clausthaler Junghirte Helmut
Schönfelder die inzwischen stark zusammengeschmolzene Grundner Herde.
1952-55 löste ihn Männe Diekmann ab, der dann nach Festenburg
wechselte. Hirten – Halali: Es ist eben nichts beständiger als der
Wandel: Brave Männer sind zu Hause und ruhen sich im Hirtenhimmerl
aus, und in jenem Paradiese gibt’s gewiss noch mehr als Berge, Täler,
Wald und Wiese!
Für
die damalige Stadtreinigung (zweimaliger, täglicher Herdendurchzug)
hätten Karl Kath und Hermann Kratzenstein einen hohen Orden verdient!
Wünschen wir dem derzeitigen Neubeginn einer Haltung rotbrauner Harzkühe
viel, viel Erfolg!!
Willi
Wagener
|